Grundlegende anthroposophische Meditationsübungen


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Die hier beschriebenen Übungen stammen von Rudolf Steiner. Man benötigt für dafür jeweils 10 bis 15 Minuten absolut ungestörter Zeit. Idealerweise sollten jeweils eine der Übungen morgens und eine abends durchgeführt werden. Man sollte dabei konzentriert und wach sein. Es macht keinen Sinn zu üben, wenn man (noch oder schon) sehr müde ist. Es empfiehlt sich eine sitzende, aufrechte (die Wachheit unterstützende) Körperhaltung.

Der Beginn und das Ende der Übung sollten jeweils innerlich klar gefasst werden. Man kann sich z.B. vorstellen, dass man zu Beginn wie durch ein „Tor der Andacht (oder der Ehrfurcht) für das zu Erlebende“ in den inneren Mediationsraum eintritt und am Ende der Übung durch ein „Tor der Dankbarkeit für das Erlebte“ wieder hinaus. Die Meditationsstimmung sollte nicht mit der alltäglichen Bewusstseinsstimmung vermischt werden.

Versuchen Sie, während der Übung so konzentriert wie möglich bei der Sache zu bleiben. Sollten Sie abschweifen, gehen Sie einfach wieder zum Meditationsinhalt zurück. Es kommt nicht auf die Länge der Übung an, sondern auf die Intensität der Konzentration und die Tiefe des Erlebten.

 

1. Übung: Nachklingen-lassen von Natureindrücken - eine erkenntnisorientierte Meditation zur Vertiefung des Naturerlebens und Naturerkennens

In seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ beschrieb Rudolf Steiner diese Übungen folgendermaßen:

 

„Der [Geistesschüler] wird darauf verwiesen, sich Augenblicke in seinem Leben zu schaffen, in denen er still und einsam sich in sich selbst versenkt. Nicht den Angelegenheiten seines eigenen Ich aber soll er sich in solchen Augenblicken hingeben. Das würde das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt ist. Er soll vielmehr in solchen Augenblicken in aller Stille nachklingen lassen, was er erlebt hat, was ihm die äußere Welt gesagt hat. Jede Blume, jedes Tier, jede Handlung wird ihm in solchen stillen Augenblicken ungeahnte Geheimnisse enthüllen. Und er wird vorbereitet dadurch, neue Eindrücke der Außenwelt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Wer nur Eindruck nach Eindruck genießen will, stumpft sein Erkenntnisvermögen ab. Wer, nach dem Genusse, sich von dem Genusse etwas offenbaren läßt, der pflegt und erzieht sein Erkenntnisvermögen. Er muß sich nur daran gewöhnen, nicht etwa nur den Genuss nachklingen zu lassen, sondern, mit Verzicht auf weiteren Genuss, das Genossene durch innere Tätigkeit zu verarbeiten.

 

Konkrete Anleitung:

           

Erinnern Sie sich an einen Natureindruck. Es kann eine Pflanze, ein oder mehrere Tiere, eine Landschaft, eine atmosphärische Stimmung, Sonnenauf- oder -untergang, Sternenhimmel, etc. sein. Bitte bilden Sie diesen Eindruck möglichst lebendig und wirklichkeitsgemäß in der Vorstellung nach („vor die Seele stellen“). Anschließend verweilen Sie innerlich eine Zeitlang bei diesem Eindruck. Sie können ihn „belauschen“, d.h. zu sich „sprechen lassen“. Bei Wiederholung können Sie denselben oder einen anderen Natureindruck meditieren.

Besondere Intensität können solche Natureindrücke gewinnen, wenn man sie in einer Stimmung der Ehrfurcht meditiert.

 

2. Übung: Mediation eines Spruches oder Mantras – eine Meditation zum Aufwecken seelisch-geistiger Erfahrungen

Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung wie oben beschrieben.

Bei dieser Meditation gehen Sie die einzelnen Zeilen bzw. Inhalt des Spruches nacheinander durch. Achten Sie dabei jeweils auf

-        das Erleben bezüglich Ihrer eigenen Leiblichkeit (oben, Mitte, unten, außen, innen, etc.)[1]

-        Bewegungen, die durch den Meditationsinhalt erlebt werden; Art und Richtung solcher Bewegungen,

-        mögliche Farben- oder Lichteindrücke,

-        die eventuelle Verdichtung des Inhaltes zu einem Bild, dass Sie eine Zeitlang vor der Seele halten können.

Sie können nach persönlicher Vorliebe eines der folgenden Mantras von Rudolf Steiner – oder ein auch ein anderes – auswählen. Dann sollten Sie über eine längere Zeit bei diesem einen Mantram bleiben.

 

I.

Strahlender als die Sonne
Reiner als der Schnee
Feiner als der Äther
Ist das Selbst,
Der Geist in meinem Herzen.
Dies Selbst bin Ich,
Ich bin dies Selbst.

II.

Licht fühle ich um mich,
Es ist Weltenlicht;
Licht fühle ich in mir,
Es ist Menschenlicht;
Und empfangen will ich
Menschenlicht als Weltenlicht,
Weltenlicht als Menschenlicht.

III.

In dem Herzen webet Fühlen,
In dem Haupte leuchtet Denken,
In den Gliedern kraftet Wollen.
Webendes Leuchten,
Kraftendes Weben,
Leuchtendes Kraften:
Das ist – der Mensch.

 

Auch hier kommt es nicht auf die Länge, sondern auf die Tiefe der Meditation an. Notieren Sie bitte im Anschluss Inhalt, Dauer und Intensität der Meditation und die dabei erlebten Eindrücke und Gedanken.

 

3. Übung: Sich selbst wie einen völlig fremden Menschen betrachten – eine Übung zum Aufwecken des geistigen Beobachters und zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit

Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung wie oben beschrieben. Diese Übung sollte nach Möglichkeit täglich durchgeführt werden. Man kann dazu eine Situation des vergangenen Tages oder eine länger vergangene wählen.

In seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ beschrieb Rudolf Steiner diese Übungen folgendermaßen:

 

„In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig herausreißen aus seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben soll da eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll seine Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich dabei so stellen, daß er alles das, was er sonst erlebt, von einem höheren Gesichtspunkte aus ansieht. Man denke nur einmal daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man selbst erlebt oder getan hat. Das kann nicht anders sein. Denn mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte. Man stelle sich einmal vor: jemand habe einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Wie anders steht er dem gegenüber als einem ganz gleichen Schicksalsschlage bei seinem Mitmenschen? Niemand kann das für unberechtigt halten. Es liegt in der menschlichen Natur. Und ähnlich wie in solchen außergewöhnlichen Fällen ist es in den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens. Der [Geistesschüler] muß die Kraft suchen, sich selbst in gewissen Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren Ruhe des Beurteilers muß er sich selbst entgegentreten. Erreicht man das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse in einem neuen Lichte. Solange man in sie verwoben ist, solange man in ihnen steht, hängt man mit dem Unwesentlichen ebenso zusammen wie mit dem Wesentlichen. Kommt man zur inneren Ruhe des Überblicks, dann sondert sich das Wesentliche von dem Unwesentlichen. Kummer und Freude, jeder Gedanke, jeder Entschluss erscheinen anders, wenn man sich so selbst gegenübersteht. - Es ist, wie wenn man den ganzen Tag hindurch in einem Orte sich aufgehalten hat und das Kleinste ebenso nahe gesehen hat wie das Größte; dann des Abends auf einen benachbarten Hügel steigt und den ganzen Ort auf einmal überschaut. Da erscheinen die Teile dieses Ortes in anderen gegenseitigen Verhältnissen, als wenn man darinnen ist. Mit gegenwärtig erlebten Schicksalsfügungen wird und braucht dies nicht zu gelingen; mit länger vergangenen muß es vom Schüler des Geisteslebens erstrebt werden. - Der Wert solcher inneren, ruhigen Selbstschau hängt viel weniger davon ab, was man dabei erschaut, als vielmehr davon, daß man in sich die Kraft findet, die solche innere Ruhe entwickelt. …

Es gehört gewiß in mancher Lebenslage eine große Kraft dazu, sich Augenblicke innerer Ruhe zu schaffen. Aber je größer die notwendige Kraft, desto bedeutender ist auch das, was erreicht wird. Alles hängt in bezug auf die Geheimschülerschaft davon ab, daß man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser Aufrichtigkeit sich selbst, mit allen seinen Handlungen und Taten, als ein völlig Fremder gegenüberstehen kann.“

 

Konkrete Anleitung:

           

Bitte stellen Sie sich eine Situation des vergangenen Tages – oder auch eine länger zurückliegende – vor. Versuchen Sie, sich selbst in dieser Situation wie eine fremde Person wirklich von außen zu sehen (wobei Sie allerdings in Ihre Gefühle und Gedanken hineinschauen können). (Es kann hilfreich sein, wenn Sie sich eventuell sogar einen anderen Namen geben und innerlich mitsprechen, was Sie beobachten. Sprechen Sie dabei von sich selbst in der dritten Person.) Die Vorstellung der Situation sollte so konkret-bildhaft wie möglich sein. Versuchen Sie, sich selbst in aller Ruhe und Wahrhaftigkeit („rückhaltlos“, wie Rudolf Steiner schrieb) zu betrachten und auch zu beurteilen.

Achtung: Falls Sie dazu neigen, sich selbst oft negativ zu beurteilen, dann sollten Sie dieses Verhalten durch die Übungen keinesfalls verstärken! Das wäre absolut kontraproduktiv. Versuchen Sie stattdessen z.B., sich dabei zuzuschauen, wie Sie sich selbst negativ beurteilen und was das für eine Wirkung auf Sie und ihre Umgebung hat.

Nach einiger Zeit der inneren Betrachtung wechseln Sie in den „Blick Ihres Engels“. Dieser sieht und weiß alles über Sie in völliger Nüchternheit, aber auch in Liebe. Fragen Sie den Engel, wie Sie sich in der betrachteten Situation „eigentlich richtig“, d.h. konstruktiv verhalten hätten können.

 

Christoph Hueck

Oktober 2023

 


[1] Es ist auch möglich, das Erleben nicht auf das nähere Umfeld der eigenen Leiblichkeit, sondern auf die kosmische Weite zu richten.