Die Zeit und ihr Geheimnis


Zeit ist ein eigenartiges Phänomen. Schnell verfliegt sie, wenn sie mit Erlebnissen erfüllt ist, und qualvoll langsam kann sie vergehen, wenn man auf etwas wartet. Dabei scheinen die Uhren, objektiv gesehen, doch immer gleich schnell zu ticken. Aber können sie die Zeit verständlich machen? Geht die Zeit gleichförmig immer weiter? Genau genommen zeigen Uhren nur räumliche Veränderungen ihrer Zeigerstellungen: jetzt einen Winkel von 45 Grad, jetzt von 46 Grad, usw. Ähnliches gilt für den Gang der Sonne: Man sieht sie immer nur an bestimmten Stellen über dem Horizont. Das hat mit Zeit noch nicht unmittelbar etwas zu tun. Die Zeit fügt man als Erlebnis zu den räumlichen Erscheinungen erst hinzu. Oder anders ausgedrückt: Zeit kann man nicht sinnlich wahrnehmen. Durch die Sinne lässt sich immer nur das gegenwärtig Vorhandene beobachten. Das Vergangene kann man nicht mehr sehen, hören, tasten, und das Zukünftige noch nicht. Zeit erlebt man nur, weil man sich an Vergangenes erinnern kann und dies mit dem Gegenwärtigen vergleicht, und weil man Zukünftiges erwartet. Ohne Erinnerung und Erwartung gäbe es nur das ewige, bunte, immer neue, immer andere Jetzt. Aber wir wüssten nicht, dass es immer anders ist. Aller Zusammenhang des Lebens ginge verloren. Die Zeit ist keine objektive, sinnlich wahrnehmbare Erscheinung. Die Wirklichkeit der Zeit kann man nur seelisch erleben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie, je nach Erlebnisdichte, mal schneller und mal langsamer vergeht. Hier – auf dem Schauplatz des Seelenlebens – muss man die Zeit beobachten, wenn man sie genauer kennenlernen will. 

 

Erinnerung und Erwartung

 

Man besucht ein Konzert. Direkt hörbar sind nur die gegenwärtigen Klänge, doch erinnert man sich an die vergangenen und erwartet die kommenden, und spannt so erst den Bogen der Musik. Oder man begegnet einem alten Bekannten. Viele Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse tauchen auf, und zugleich erwartet man mit mehr oder weniger bewusster Spannung, was sich in der neuen Begegnung ereignen wird. So spannt sich, zeitübergreifend, Freundschaft.

Nicht nur die Vergangenheit ist in der Gegenwart anwesend, sondern auch die Zukunft. Besonders deutlich wird das, wenn man es mit lebendiger, seelischer und geistiger Entwicklung zu tun hat, mit der Entwicklung von Kindern, mit Erziehung und Unterricht, mit therapeutischen Prozessen, aber auch mit Lebensprozessen wie zum Beispiel in der Landwirtschaft. Immer gehört die Erwartung des Zukünftigen genauso zur Gegenwart wie die Erinnerung des Vergangenen. Und es ist nicht nur eine subjektive Erinnerung und Erwartung, sondern die objektive, wenn auch verborgene Anwesenheit des Vergangenen und Zukünftigen im Gegenwärtigen, die das Leben ausmacht. Fruchtbar wird dieser Gedanke zum Beispiel, wenn man sich bei einem Kind vorstellt, dass seine seelisch-geistige Persönlichkeit aus der Zukunft auf es zuströmt, um in ihm immer mehr zur Erscheinung zu kommen.

Die subjektive und die objektive Seite des herannahenden Zukünftigen verschränken sich in schöner Weise im künstlerischen Tun. Ich beginne, ein Bild zu malen. Dem ersten Pinselstrich geht ein noch ganz subjektiver Erwartungsraum voraus, dem die ersten Farbtupfer aber bereits objektive Gegenständlichkeit einsetzen, die sich nach ihren eigenen Bedürfnissen weiter entwickeln will. Das Herannahen des Künftigen wird hier zum Wechselspiel zwischen mir und dem Gegenstand, zwischen Erschaffen und Empfangen. Man kann deshalb im schöpferischen Prozess besonders gut erleben, was für alles Zukünftige gilt: Es kommt auf uns zu, und es trägt seine eigene Logik in sich.

 

Doppelstrom der Zeit

 

Rudolf Steiner beschrieb diesen eigenartigen Zusammenhang als den »Doppelstrom der Zeit«. Neben dem bekannten gebe es einen zweiten, verborgenen Zeitstrom, der aus der Zukunft in die Vergangenheit ströme, und die Gegenwart sei gerade die Begegnung und Durchdringung beider Ströme. Man kann dies seelisch beobachten. In dem einen Strom fließt alles weiter, was man einmal erlebt hat und wieder vorstellen kann, in dem anderen kommt etwas auf einen zu und trifft auf die eigenen Erwartungen, Hoffnungen, das eigene Wünschen und Wollen.

Senkrecht zu dieser doppelten Zeitströmung – so Steiner – stellt sich das autonom wirkende Ich des Menschen, das das Vergangene durch Erinnerung vergegenwärtigt und das aus der Zukunft Heranströmende durch Beurteilung ergreift. Schließlich stünden dem Ich die gegenwärtigen Eindrücke der Sinne entgegen, die aus dem Leib in die Seele aufsteigen und die man als vierte Richtung von unten nach oben einzeichnen könne.

Rudolf Steiner erläuterte nun, dass diese vier Wirkungsrichtungen ihre Grundlage in der Organisation des Menschen haben, in seinen so genannten Wesensgliedern, dem physischen Leib, dem Lebens- oder Ätherleib, dem Bewusstseins- oder Astralleib und dem Ich. Was aus der Vergangenheit ströme und wieder vorgestellt werden könne, sei vom Lebensleib getragen, in dem Begehren des Astralleibes ströme das Zukünftige ein. Das Ich wirke erinnernd und beurteilend von oben, die Sinneseindrücke des physischen Leibes von unten. Mit anderen Worten: Aus der Vergangenheit fließt das Lebendige, aus der Zukunft strömt Seelisches ein, von unten die physische Welt, von oben das Geistige.

Mit dieser Figur haben wir einen Schlüssel, der die Rätsel der Seele und des Lebens aufschließen kann. Man achte nur einmal darauf, wie man selbst im Zentrum dieser vier Wirkungsrichtungen lebt: Im gegenwärtigen Lebensmoment als Ich der Welt gegenüberstehend, hinter mir die Vergangenheit, vor mir die Zukunft, über allem das Ewige. Wenn alle vier Richtungen ausgeglichen zusammenwirken, entstehen Harmonie und Gesundheit: Gegenüber dem Vergangenen Dankbarkeit (und nicht Hader), gegenüber dem Zukünftigen Offenheit (und nicht Furcht). Dem Geistigen gegenüber das Vertrauen, dass alles, was auch geschieht, einen höheren Sinn hat (anstelle von Zweifel), und gegenüber dem anderen Menschen, der gegenwärtigen Situation und dem eigenen Leib Achtsamkeit (anstelle von Verschlossenheit und Selbstbezug).

Rudolf Steiner wies einmal auf die Entwicklung eines Schmetterlings als wunderbares Naturbild für die vier Wesenswirkungen: Das Ei entspricht dem Physisch-Gegenwärtigen, in dem sich alle Kräfte der Vergangenheit bündeln und das zugleich so viel geheimes Potenzial der Zukunft birgt. Die Raupe zeigt die dumpfen Lebensprozesse der rhythmischen Wiederholung und des zunehmenden Wachstums, während die astralen Kräfte diesen Lebensstrom gleichsam aufstauen und in ein Inneres verpuppen. Schließlich entfaltet sich aus der Abgeschlossenheit der leuchtende, durchgestaltete Schmetterling und verbindet sich, wie das Ich, mit dem Luft- und Lichtspiel seiner Umgebung (nicht ohne selbst fruchtbar zu werden und neue Eier zu legen).

 

Schlüssel für die Pädagogik

 

Mit Hilfe dieses Zeitkreuzes lässt sich Entwicklung nun besser verstehen. Man kann nämlich sagen, dass Entwicklung darin besteht, dass ein geistiges Wesen durch den Doppelstrom der Zeit in die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung tritt, wobei das sinnlich Entstandene jeweils zum Widerlager für weitere Entwicklungsschritte wird. Das seelisch-geistige Wesen des Kindes zum Beispiel verbindet sich mit einem Körper, den es von seinen Eltern ererbt hat – dem lebendigen Strom aus der Vergangenheit. Während es wächst, strömt aus der Zukunft immer mehr Seelisches ein, das Kind entwickelt zunehmende Bewusstseinsfähigkeit. Alles wird überstrahlt von der geistigen Individualität, die ihre körperliche und seelische Organisation immer mehr durchdringt, differenziert und als Werkzeuge benutzen lernt. Schließlich erscheint in jedem Entwicklungsmoment ein konkreter, physischer Mensch.

Dabei überwiegen in den ersten sieben Jahren der kindlichen Entwicklung die lebendigen Kräfte der Vergangenheit, denen sich das Kind hingebungsvoll-unbewusst anvertraut, während ab Vierzehn die auf die Zukunft gerichteten, bewussten seelisch-astralen Kräfte voll einbrechen, meist mit Unsicherheit und Angst verbunden. In der Mitte, zwischen Zahnwechsel und Pubertät, herrscht ein wunderbares Gleichgewicht, in dem das Kind in der Gegenwart atmend zwischen lebendigem Tun und seelischem Erleben schwingt. Und man weiß dann als Erzieher und Lehrer auch, wie man für Kinder und Jugendliche arbeiten muss: Im ersten Jahrsiebt mit dem kindlichen Lebensstrom mitleben, diesen für das Kind gestalten; im zweiten die atmende Begegnung des Kindes mit der Welt anregen und beleben, und im dritten das Aufwachen der einziehenden Bewusstseinskräfte für die Welt- und Menschenerkenntnis fördern – haben sie doch als Innenerlebnisse die starke Tendenz, sich in sich selbst zu verschließen. Durch ein Verständnis des menschlichen Seelenwesens im Schnittpunkt zwischen den Zeitströmen aus Vergangenheit und Zukunft sowie zwischen dem Geistig-Ewigen und dem Physisch-Gegenwärtigen können so die Rätsel der Zeit und Entwicklung anschaubar und fruchtbar werden.

 

(Christoph Hueck)

 

Literatur: Rudolf Steiner: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie, Vortrag vom 4.11.1910, GA 115, Dornach 2001; ders.: Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes, Vortrag vom 19.10.1923, GA 230, Dornach 1970